Hellmuth Metz-Göckel (Universität Dortmund)
Steven Lehar (2003). The world in your head. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum, 298 S., 40 Euro
Es handelt sich um ein für die Gestalttheorie unglaublich wichtiges Buch, das sich mit den Besonderheiten und Rätseln der Wahrnehmung befaßt und diese in einem geschlossenen theoretischen Ansatz zu fassen sucht. Der Autor greift dazu die gestalttheoretischen Grundlagen, wie sie insbesondere WERTHEIMER und KÖHLER vertreten haben, auf und führt sie stringent weiter, was zu einer großen Zahl neuer Erkenntnisse und Ansätze führt.
Zum Stand der Diskussion geht er von der allgemeinen Beobachtung aus, daß Gestalttheorie häufig lediglich mit den Gestaltgesetzen der Wahrnehmung identifiziert wurde und in der entsprechenden psychologischen Forschung und Diskussion darüber hinaus keine große Rolle gespielt hat. Er ist der Meinung, daß diese Nicht-Beachtung etwa in den 50er Jahren darauf zurückgeführt werden kann, daß damals – als die Computermodellierung ihren Anfang nahm – kein plausibler Verarbeitungsmechanismus für die globale Natur der Wahrnehmung und ihre besonderen Eigenschaften vorgestellt werden konnte. Zwei weitere Gründe liegen in Entwicklungen, die gestalttheoretischem Denken diametral entgegengesetzt waren. Zum einen die besondere Betonung und Berücksichtigung der Prozesse in der einzelnen Nervenzelle. Zum anderen das Aufkommen des digitalen Computers, wodurch Operationsprinzipien die Oberhand gewannen, in denen jedes Einzelproblem in eine Sequenz einfacher Schritte aufgelöst wurde, die in Isolation vom Problem als Ganzem behandelt und berechnet werden. Die Verrechnungsprinzipien, die der biologischen Wahrnehmung zugrunde liegen, sind fundamental verschieden von denen der digitalen Verrechnung. Nur eine analoge Repräsentation vermag den Phänomenen gerecht zu werden.
LEHARs Grundannahme besteht darin, daß man vom Phänomen auszugehen habe, denn dieses stellt die anschauliche Wirklichkeit dar, und daß jede Modellierung seinen Charakteristika Rechnung tragen muss. Durch das ganze Buch zieht sich darüber hinaus die Arbeitshypothese, daß auch die Wahrnehmungsphänomene nicht ohne physiologische Entsprechung sein können.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind eine Reihe von Besonderheiten der Wahrnehmung, die zum Teil schon wohlbekannt und vom ihm noch etwas schärfer konstruiert werden; das eine oder andere ist aber auch neu. Diese Besonderheiten sollten beschrieben, erklärt und nach Möglichkeit in einem geschlossen Ansatz modelliert werden, wobei sich im Verlauf der Erörterungen immer wieder zeigt, daß die actuellen neurophysiologischen Erkenntnisse wenig dazu beizutragen vermögen. Auch vorliegende wahrnehmungspsychologische (wie derjenige von MARR) wie informationstheoretische Ansätze erweisen sich dabei nicht asl besonders fruchtbar.
Die Auflistung der Besonderheiten der Wahrnehmung würde auch den existierenden Lehrbüchern gut zu Gesicht stehen. Hintergrund ist der kritisch- realistische Standpunkt der Aufteilung nach 1. und 2. Wirklichkeit, wobei er als erkenntnistheoretische Positionen ‚direkten’ und ,indirekten’ Realismus unterscheidet, was mit naivem und kritischem Realismus gleichzusetzen ist. Weiter betont er die Erkenntnis, daß wir ein Abbild der Welt einschließlich von uns selber im Kopf haben. Besondere Beachtung findet die Tatsache, daß unsere Wahrnehmung räumlich ist, obwohl die Netzhautbilder zweidimensional sind.
Darüber hinaus spielt das von den Gestalttheoretikern vertretene Prinzip der ,Emergenz’ in seinen Ausführungen eine besondere Rolle. Der englische Ausdruck scheint mir treffender als unsere Umschreibung, nämlich: das selbstverständliche, unwillkürliche Auftauchen oder Erscheinen der Phänomene, auch ohne eine Instanz, die dies veranlasst (dieser Grundgedanke ist voll durchgehalten, selbst wenn im Text gelegentlich von ,Konstruktion’ gesprochen wird). Ein weiterer Begriff, der auch keine eindeutige deutsche Entsprechung hat, beschreibt ein wichtiges Charakteristikum der Wahrnehmung (das möglicherweise bisher noch nicht hinreichend berücksichtigt wurde), nämlich die ,Reifikation’ im Sinne des Ergänzens oder ,Auffüllens’ einer kompletten, wahrnehmungsmäßigen Ganzheit, auch bei suboptimalem und unvollständigem Input. Weiter die Mehrdeutigkeit vieler Wahrnehmungsphänomene, z.B. das Umschlagen der Fassungen beim NECKER’schen Würfel. Weiter die Invarianz der wahrgenommenen Formen, wobei im Grunde über die bekannten Konstanzphänomene hinausgegangen wird und auch Erscheinungen etwa bei Rotation gemeint sind. Er betont mehrfach, das die Invarianz des Erkennens allgemein in einer Kombination von Reifikation und Abstraktion besteht, etwa: wen der Teil eines Musters gesehen wird, füllt die Wahrnehmung die fehlenden Teile auf, in dem sie die basalen Muster fortführt, die die sichtbaren Teile nahe legen. Weitere Belege sind in der amodalen Wahrnehmung zu sehen: die sichtbare Vorderseite führt zu Ergänzungen der verdeckten Teile bzw. der Hinterseite.
Ein Prinzip, das die bisherige Literatur offensichtlich noch nicht hinreichend berücksichtigt hat, allerdings eine echte Herausforderung für Erklärungsansätze und Modellierung darstellt, ist die offensichtlich freie Verankerung der Phänomene im Nervensystem. Jede Bewegung des Kopfes führt bei den Wahrnehmungsdingen – bezogen auf das hirnphysiologische Substrat – zu einer Verschiebung; dennoch erleben wir die Gegebenheit als stabil an einer festen Stelle im Wahrnehmungsfeld.
Auf die vielen Einzelthemen kann hier nun nicht eingegangen werden; sie sind stets plausibel diskutiert und durch Vorlagenbeispiele belegt.
Wir können hier nur auf einige besonders wichtige Punkte und schließlich auf die zugrundliegende zentrale Theorie eingehen.
Hinsichtlich der Frage, wie es kommt, daß wir eine räumliche Welt wahrnehmen, vermag er zunächst plausibel – auch aufgrunde einiger Untersuchungen – zu belegen, daß die wahrgenommene Welt auf nicht-euklidischen Strukturen basiert. Was damit gemeint ist, wird vielleicht bereits deutlich, wenn man sich eine Person auf einer Geraden Strasse vorstellt: Diese straße hat an der Stelle, and der sich die Person befindet, eine Ausbuchtung, und die Straße verengt sich in ihrem Verlauf von der Person weg perspektivisch in die Ferne, wo sie aber dennoch irgendwo endet. Aufgrund dieser strukturellen Gegebenheiten erleben wir die Straße als schnurgerades Gebilde.
Bei Einzelphänomenen ist zu erklären, wieso es zu dreidimensionalen Gebilden kommt, auch dann, wenn die Vorlagen zweidimensional sind. Hier geht er von der Annahme aus, daß wir uns Prozesse in einer Art Blase vorstellen müssen, und daß die zweidimensionale Darstellung eine Unzahl von räumlichen Varianten im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsverteilung erzeugt, wobei dann die prägnante und vielleicht auch bekannte Konstellation realisiert wird. Es werden etwa alle Neigungen der Linien, die von einem Ursprungspunkt ausgehen, räumlich aufgefaltet, und die Variante, die eine Ecke eines Körpers darstellt, gewinnt dann als die plausibelste und prägnanteste die Oberhand.
Viel größere Probleme bereitet der Versuch, die vielen verschiedenen Inputs der Wahrnehmung auf einer höheren Ebene zu integrieren und dabei sowohl top-down als auch bottom-up Prozesse zuzulassen. Grundsätzlich vertritt LEHAR den Standpunkt, daß wir sowohl auf einer höheren wie auf der niederen Ebene, also der Erregungsleitung im Nerven, entgegen den vorherrschenden Auffassungen von bidirektionalen Prozessen ausgehen müssen, was auch der von ihm vorgeschlagene Theorie entspricht (s.u.). Weiter, daß es sich um parallel verteilte Prozesse handelt. (Allerdings findet er die von den Verfechtern des Parallel-Distributed-Processing- Ansatzes vorgelegten Auffassungen als unangemessen bzw. er meint, die sich daran orientierende Modellierung würde unüberschaubar komplex.)
Die Integrationsleistung, die dann zum Wahrnehmungsphänomen einer räumlichen Welt führt, ist seiner Meinung nach am besten dadurch zu verstehen, daß eine große Zahl von Informationen über denselben Gegenstand in den verschiedensten Modalitäten (die auch im Gehirn an verschiedenen Stellen lokalisierbar wären) zu einem Ganzen verschmolzen werden. Dem Rezensenten fiel dazu ein schlichtes Beispiel ein: bei der Wahrnehmung von Obst vermögen wir die Informationen aus verschiedenen Sinneskanälen zu integrieren.
Der dann vorgestellte Ansatz ist die ,harmonische Resonanztheorie’, die davon ausgeht, daß die Repräsentation physikalisher (und anderer) Strukturen als Zustand von ,stehenden Wellen’ in einem Resonanzsystem am besten aufgefaßt werden kann. (Der theoretische Ansatz und auch die hier gewählte Begrifflichkeit ist in der Physik wohlbekannt.) Die Komponenten Können über das gesamte Gehirn verteilt sein, das ja auch bei der Erhebung des Elektroencephalogramms als eigener Resonator aufgefaßt wird, in dem Einzelfrequenzen von Oszillationen zu einer globalen Oszillation zusammengefügt sind.
Stehende Wellen bieten genau die Adaptivität und Flexibilität, um den Eigenschaften globaler Ganzheiten, den Invarianzen, den Reifikationen etc. Rechnung zu tragen. Noch nachvollziehbare Verhältnisse dürfen beim Erkennen oder Wiederkennen vorliegen. Hier wirken dann top down – bottom up – Resonanzen, wahrscheinlich bidirektional und im Wechsel. Bei einem unvollständigen oder mehrdeutigen Input würde das naheliegende Vergleichsmuster, das in der harmonischen Repräsentation verschlüsselt ist, aktiviert und zu Reifikation, amodaler Ergänzung, aber natürlich auch zum Erkennen verwandt.
Die Grundgedanken werden dann noch auf eine Reihe weitere Phänomene angewandt, z.B. Sprache und Kognition, motorische Kontrolle, Ästhetik. Zu diesen Punkten empfehlen wir die Lektüre im Original.
Die Theorie, die LEHAR hier vorgelegt hat, ist außergewöhnlich anregend, und kann gewiß als der aktuell wichtigste Beitrag zur Gestalttheorie und ihrer Weiterentwicklung angesehen werden. Vieles ist – wie der Autor einräumt – spekulativ, aber wenn man von den Tatsachen ausgeht, so sind seine Überlegungen durch eine hohe Plausibilität und Geschlossenheit gekennzeichnet. Wenn man die vielfältigen Phänomene aufklären will, so bleibt nur eine Möglichkeit, wie sie die ausgefaltete Theorie bietet. Es ist abzuwarten, welche und wie viel Resonanz die Resonanztheorie in der wissenschaftlichen Diskussion erfährt. Verdient hätte sie es.
Hellmuth Metz-Göckel (Universität Dortmund)